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Werbestrategen und Mediaexperten im Dauerstress

Mediaentscheider haben Probleme. Sie haben die Kontrolle über existenzielle Daten verloren, die Kampagnen-Wirkung sinkt und sie wissen keinen Ausweg. Thomas Koch weiß, wie man ihnen helfen kann. Eine Kolumne.

31. Oktober 2023
TEXT: Thomas Koch, Wirtschaftswoche, Kolumne Werbesprech

Die Werber sind wahrhaftig nicht zu beneiden. Ihre Profession verliert kontinuierlich an Attraktivität, das Vertrauen in Werbung schwindet seit Jahren, die Werbewirkung sinkt, Cem Özdemir will die Werbung für 70 Prozent der Lebensmittel verbieten, in puncto Nachhaltigkeit ist man branchenweit nicht halb so weit, wie man sein müsste. Und jetzt auch noch das: Die Fachzeitung Horizont titelt „Stressfaktor Mediaplanung – die schwierige Suche nach dem richtigen Media-Mix“.

Horizont drückt dabei heftig auf die Tränendrüse: Man muss fast schon Mitleid haben mit den hochbezahlten Media- und Marketingentscheidern. Es wird, will man uns glauben lassen, immer schwerer, Zielgruppen werblich anzusprechen, weil sich das Publikum auf immer mehr Medien verteilt. Die Medienlandschaft ist inzwischen völlig zersplittert. Die Menschen vertreiben sich auf immer mehr Plattformen, in unzähligen Streams und einem immer noch großen Angebot an klassischen Medien ihre Zeit. Wie soll ein Unternehmen angesichts dessen bloß den passenden Media-Mix finden?

So ganz neu ist das Dilemma nicht. Das hätte man ebenso gut schon vor zehn Jahren konstatieren können. Christian Bachem, Geschäftsführer des Consulting-Unternehmens Markendienst Berlin, stellt jedoch fest: „Einen Media-Mix zu finden, der eine ausreichend hohe Reichweite und den nötigen Werbedruck erzielt, ist in einer fragmentierten Medienlandschaft zunehmend schwieriger. Insbesondere, wenn es um jüngere Zielgruppen geht.“ Er trifft damit den Nagel auf den Kopf.

Mediaplaner mit Klotz am Bein

Für Stefan Uhl, Managing Director DACH bei der Media- und Marketingberatung Ebiquity, besteht ein weiteres Problem in sinkenden Einzelreichweiten: „Daher ist der Media-Mix für die Erzielung möglichst hoher Nettoreichweiten in den allermeisten Fällen die richtige Antwort.“ Doch die Datenlage ist laut Uhl nicht ausreichend, um den richtigen Mix zu finden, da es keine anerkannte Währung gibt, die alle Kanäle umfasst. Christian Bachem spricht von einem „Klotz am Bein der Mediaplanung“.

Es fehlt den Werbern mithin an vergleichbaren Medien-Daten für ihre Mediaentscheidungen. In Wirklichkeit besitzen sie mehr Daten, als sie jemals verarbeiten könnten. Doch die stammen zunehmend aus nicht von Marketing- und Mediaentscheidern kontrollierbaren Quellen. Was Google, Meta (Facebook, Instagram) oder TikTok, die deutsche Werbung in Milliardenhöhe ausspielen, in ihre Excel-Charts als Nachweis ihrer Arbeit eintragen, könnte ebenso frei erfunden sein. Facebook ist schon mehrfach dabei erwischt worden, dem Werbemarkt wissentlich falsche Daten geliefert zu haben. Die Auslieferung der Werbemittel durch die Plattformen („Walled Gardens„) ist nicht für deutsche Werber kontrollierbar.

Dabei ist die Lösung des Problems denkbar einfach. Früher beaufsichtigten Werbungtreibende und Agenturen die Erhebung aller Daten über die Mediennutzung der Konsumenten. Sie hatten jederzeit Zutritt zum Maschinenraum und konnten kontrollieren, wie welche Mediennutzungs-Daten erhoben werden. Das gilt nach wie vor für die Daten der Media-Analyse oder der Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung (AGF), aber eben nicht für die Digital-Plattformen.

Kontrolle über Daten wiedererlangen

Wenn die Digital-Fraktion keine Transparenz über ihre Daten zulässt, müssten Werbekunden und Agenturen sie selbstbewusst in Frage stellen und/oder selbst erheben. Das für eine solche Erhebung erforderliche Geld ist sinnvoll angelegt angesichts von 26 Milliarden Euro, die alljährlich in Deutschland in Werbung investiert werden. Warum die hiesigen Protagonisten das Heft nicht wieder selbst in die Hand nehmen, kann niemand erklären. Es bleibt ein Rätsel – und erweist sich nun als kapitaler Fehler.

Dass Targeting als Lösung für das Fragmentierungsproblem, weil es Zielgruppen angeblich genauer adressiert und individualisiert ansprechen lässt, oft keine brauchbare Antwort ist, erläutert Bachem. Für ihn ist das Targeting „zumeist eine Illusion“: „Die ist allerdings so stark, dass sie viele Marketing- und Mediaverantwortliche dazu verleitet, mit Wunsch-Zielgruppen zu arbeiten, die oft zu spitz und meistens jünger und attraktiver sind als die tatsächliche Käuferschaft.“ Targeting, damit hat Bachem leider recht, sei „systematisch unpräzise, da die verwendeten Nutzerprofile kaum belastbar sind“.

Targeting nicht präziser als Zufall

Aus diesem Grund liegt die Präzision, mit der solche Daten z.B. das Geschlecht eines Nutzers definieren, laut einer US-Studie der ANA nur bei 42 Prozent. Jeder Münzwurf eines Kindergartenkindes wäre präziser. Targeting, so Bachem, schneide daher auch in kontrollierten Tests selten besser ab als eine „zufällige Ausspielung“.

Targeting hat unsere Kampagnen ohnehin nicht entscheidend weitergebracht. Es zielt auf einzelne Menschen, die nach Erkenntnissen von Forschern mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits zu den Kunden der Marke zählen. Targeting hat unsere Kampagnen aus der öffentlichen Sichtbarkeit gezerrt, wo sie die Chance erhielten, entscheidende Phänomene wie „Mentale Verfügbarkeit“ auszulösen.

Auch die Verschiebung der Werbeetats ins Digitale sieht Bachem kritisch. Dadurch wachse das Risiko, dass sich Zielgruppen nicht wirkungsvoll erreichen lassen, da manchen Media-Kanälen die Durchschlagskraft fehle. Hier liegt ein Ursprung für die Wirkungsverluste. Die Digitalexperten haben die Datenflut im Wesentlichen zur Automatisierung der Prozesse genutzt. Mit dem fragwürdigen Erfolg, dass die programmatische Ausspielung der Werbung in nennenswertem Umfang reine Werbeseiten (MFA) bedient und Bots statt Menschen erreicht. Auch das erweist sich als Fehler.

Hat man diese Kritik verdaut, wird einem klar, dass das Problem der Werber größer ist, als sie zuzugeben bereit sind. Tatsächlich sinkt die Werbewirkung nach Aussagen von Forschern seit Jahren weltweit. Und die Werber kommen nicht auf die offensichtliche Lösung, dass sie selbst ein Teil des Problems sind.

Alle Mediapläne folgen den gleichen Hypes

Ich arbeite seit 50 Jahren in der Werbebranche und habe manches Highlight erlebt. Die Werber und Mediakollegen in dieser Branchen-Depression zu erleben, schmerzt daher sehr. Das Jammern ist dennoch nicht angebracht. Früher gab es weniger Medien und weniger Daten – aber erfolgreichere Mediapläne. Heute haben wir mehr Medien, Daten im Überfluss, alle Mediapläne folgen jedoch den gleichen Hypes – und die Werbewirkung sinkt.

Natürlich sind die Medienmärkte einem ständigen Wandel unterworfen. Kaum erfreute sich die Werbung daran, Menschen auch beim Netflix- und Amazon Prime-Streaming zu erreichen, ist der Streaming-Boom bei den jungen NutzerInnen schon wieder vorbei. So eines der zahlreichen Ergebnisse der jüngsten ARD/ZDF-Studie Massenkommunikation 2023. Dafür besitzt der Markt erstmals sekundengenaue TV-Nutzungsdaten dank All Eyes On Screens. Jede dieser Entwicklungen bringt clevere Mediaexperten näher an einen effektiven Media-Mix, der ausreichend viele Zielpersonen wirksam erreicht.

Wissenschaft statt Goldenem Kalb

Dass der Faktor Reichweite Kampagnen erfolgreich macht und die damit erzeugte Marken-Awareness die Grundvoraussetzung für jeden Werbeerfolg darstellt, weiß man seit den Siebzigern, mithin seit 50 Jahren. Diese Erkenntnis geriet vor lauter Online und Digitalisierung in Vergessenheit, wurde jedoch von Byron Sharp dank seiner Forschung 2010 wiederbelebt. Möglicherweise haben dies noch nicht alle heutigen Entscheider in Marketing und Werbung mitbekommen. Wir werden uns erst dann weiterentwickeln können, wenn wir wissenschaftlichen Erkenntnissen folgen, statt Medien-Hypes zu glauben und um das Goldene Online-Kalb zu tanzen.

Sich hinter dem Argument der Zersplitterung des Medianangebotes zu verstecken und zu lamentieren, wie schwierig es sei, den passenden Media-Mix zu finden, bringt uns und unsere Kampagnen nur dann weiter, wenn wir beginnen, unseren gesunden Menschenverstand einzusetzen.

Um Reichweite zu erzeugen, brauchen wir nicht mehr Daten – wir brauchen logischerweise weniger reichweitenschwache, digitale Medien (deren Daten sich ohnehin unserer Kontrolle entziehen) und mehr reichweitenstarke und verlässliche, analoge Medien. Wir brauchen somit eine neue Balance zwischen digitalen und analogen Medien, die unsere Kampagnen wieder öffentlich sichtbar und erfolgreich machen. Und die Hoheit über die notwendigen Daten zurück. Notfalls auch ohne Google, Meta und TikTok. Gern geschehen.